Behind the picture

Karin Hockamp

Porträtfoto Karin Hockamp, Stadtarchivarin der Stadt SprockhövelKarin Hockamp

 

Alter: 66
Beruf: Lehrerin für Geschichte/Sozialwissenschaften (Studienassessorin)
Tätigkeit: Leiterin des Stadtarchivs Sprockhövel

 

Als „Geschichtsprofi“ weiß ich, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der Migration ist. Unsere Vorfahren, die ersten Ackerbauern in Europa, sind über die Balkanroute aus Anatolien zugewandert. Das ist doch lustig, nicht wahr? Auch in den Quellen und Studien zur Lokalgeschichte begegnet mir das Thema immer wieder: Nach Sprockhövel sind im 19. Jahrhundert zum Beispiel zahlreiche junge Leute aus dem Waldeck zugewandert. „Armutsflüchtlinge“ würde man sie heute nennen; d.h. fast alle alteingesessenen Sprockhöveler haben einen Migrationshintergrund. In meiner eigenen Familie sind auch einige Migrations- und Fluchtgeschichten überliefert: Urgroßeltern kamen um 1890 aus Ostpreußen ins Ruhrgebiet, ein Großonkel emigrierte um 1920 in die USA und Verwandte flüchteten auf dramatische Weise im Januar 1945 aus Danzig.

Ein besonderes Ereignis auch für mich persönlich war natürlich die große Fluchtbewegung aus dem mittleren Osten 2015/2016 nach Deutschland. Mein persönlicher Beitrag war die Mitbetreuung einer syrischen Familie in meiner Nachbarschaft, außerdem habe ich Kleidung und Hausrat gespendet. Und ich bin Fördermitglied bei „Pro Asyl“ geworden. Wenn jemand gegen Migrant*innen moppert oder gar hetzt, mache ich den Mund auf. Und ich stärke denjenigen den Rücken, die sich aktiv für Geflüchtete und gegen Rassismus engagieren.

Mein Freundes- und Bekanntenkreis in Sprockhövel ist auf meiner Wellenlänge; über die anderen kann ich nichts sagen. Ich spüre hier derzeit aber keine fremdenfeindliche Stimmung.

Das Zusammenleben kann nur klappen, wenn man sich respektvoll begegnet und sich gegenseitig kennenlernt. Beide Seiten müssen aufeinander zugehen. Dazu bedarf es Zeit, Ermutigung und Gelegenheiten. Es müsste viel mehr Geld in die Hand genommen werden, für Schulen, für Sprachförderung, für Begegnungen im gesellschaftlichen Raum, für die Schaffung von Arbeitsplätzen usw. Ich finde Initiativen wie die Flüchtlingshilfe Sprockhövel absolut vorbildlich und wertvoll. Es müsste auch viel mehr gegen Rassismus, gegen Nazis und ihre Steigbügelhalter unternommen werden. Die öffentlichen Mittel für diesen Bereich sind absolut unzureichend. Stattdessen produziert die Politik oft nur große Sprüche und viel heiße Luft.

Wie ich die zukünftige Entwicklung sehe? Der Zustrom von Flüchtlingen, wie wir ihn 2015 erlebt haben, wird nur ein müder Vorgeschmack auf die Migration der Zukunft sein. Es wird immer mehr Klima-Flüchtlinge geben, die versuchen, sich in unsere Gefilde zu retten. Darauf müssen wir vorbereitet sein und die Frage beantworten: Sollen wir noch mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken oder in Lagern verkommen lassen? Oder wollen wir eine menschliche Gesellschaft sein, auch wenn diese mit Einschränkungen und Verzicht verbunden ist? Was sind unsere Prioritäten? Was müssen wir jetzt anpacken? Aber das ist ein weites Feld ….

Mein Leben hat sich durch die Migrant*innen nicht verändert, aber mein Horizont ist weiter geworden. Ich habe liebenswerte Menschen und arabisches Essen kennengelernt. Auch die arabische Musik gefällt mir; vorher hatte ich sie kaum wahrgenommen. Und mir ist mal wieder bewusst geworden, wie gut es uns hier geht. Mein Blick in die Geschichte hat mir noch mal die Zeitgebundenheit und Flüchtigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse vor Augen geführt. Seit tausenden von Jahren sind Menschen unterschiedlichster Ethnien und Kulturen durch unser Land gezogen, viele sind geblieben und haben ihre Spuren hinterlassen. Unsere derzeitige westlich-bürgerliche Kultur, die auf Wachstum und Konsum aufgebaut ist, ist nur ein Intermezzo. Was wir davon unbedingt bewahren müssen, sind die Menschenrechte, ein solidarischer Umgang der Menschen miteinander. Wir oder unsere Nachkommen werden vielleicht auch einmal darauf angewiesen sein.